Doris Kneller, Bücher und Foto-Kunst
Geboren danach: französische Ausgabe

Doris Kneller, Autorin und Fotografin

Roman von Doris Kneller: Geboren danach

Doris Kneller
 
Geboren danach

 
 

Les Éditions Tapuscrits, 2021, 440 Seiten, 18 €

 
 
 

Vielleicht ein Kriminalroman ...

 
 
 
 
      Der Krieg ist vorbei. Zuerst herrschen Hunger, Kälte und Zerstörung. Aber auch das ist inzwischen vorbei. Was bleibt, ist das Nichts. Das Bedürfnis, zu vergessen. Weder Sieger noch Besiegte. Nur Schmerz. Und Leere.
       Trotzdem gelingt es keinem, zu vergessen. Dabei haben die Sieger den Vorteil, nicht allein zu sein. Sie finden Trost bei einem Kameraden, der aus der Leere entstand: Er nennt sich Hass. Währenddessen versuchen die Besiegten, einen Teil der Geschichte aus ihrem Leben zu streichen. Doch das ändert nichts.
       Was sich dagegen ändert, aber nur bei den Besiegten, das ist die Wahrheit. Was gestern und vorgestern noch richtig war, ist plötzlich falsch. Und die neue Wahrheit hat nichts mit
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der Realität von früher zu tun, mit dem alten Leben, als die Welt noch in Ordnung war.
       Doch nicht nur die Wahrheit wurde umgeformt, an dem Tag, als das deutsche Volk den Zweiten Weltkrieg verlor. Die Sieger verlangten auch, dass es seine Meinungen revidiert, seine Philosophie, seine Gefühle, all die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, und alles, was ihm am Herzen liegt. Der Feind von gestern wurde zum Freund erklärt, ob es ihm passte oder nicht. Das Böse von gestern wurde gut.
       Ein Teil dieser Veränderungen, die der Sieger den Deutschen aufzwang, betraf die Juden. Am Vortag war der Jude noch dreckig, hinterhältig, unredlich. Seine Gegenwart schadete den Kindern ... wenn er sie nicht direkt auffraß: Viele gut deutsche Geister glaubten an das, was man ihnen jahrelang eingebläut hatte. Ins Gehirn und ins Herz.
      Doch was wird aus einem Kaufmann, der Jahre damit verbrachte, Juden aus seinem Laden zu jagen? Was wird aus einem Kontrolleur, der Jahre damit verbrachte, Juden aus seinem Zug zu vertreiben? Was wird aus einem Nachbarn, der Jahre damit verbrachte, seine Nachbarschaft zu überwachen? Damit auch ja niemand einen Juden versteckt.
       Was wird aus einem Lehrer, der seit dreißig Jahren deutsche Kinder unterrichtet und den Großteil seines Berufslebens in einer Atmosphäre verbrachte, die von den Nazis geprägt war?
       Keiner ist schuldig, oh nein - keiner hat etwas Böses getan. Nur seine Pflicht.
       Zwanzig Jahre später tun sie immer noch ihre Pflicht. Man darf die Juden nicht mehr hassen? Also liebt man sie. Man darf sie nicht ausschließen? Also schließt man sie ein, notfalls mit Gewalt.
       Alles, um nur nicht als Nazi zu gelten, heute, zwanzig Jahre danach.
       Und die Juden? Die, die überlebten, und die, die „danach” geboren sind?
       Zunächst reden sie über Geld. über die Wiedergutmachung, zu deren Zahlung ihr ehemaliger Feind verurteilt wurde. Und sie tun alles, um davon zu profitieren, egal mit welchen Mitteln - und der Legalität dieser Mittel. Doch wer würde das nicht verstehen? Nach allem, was sie erleiden mussten.
       Später sind dann die Jugendlichen da. Sie sind „danach” geboren,
und sie wollen in der Gegenwart leben. Die Vergangenheit interessiert sie nicht. Was sie suchen, ist Normalität. Keine Angst mehr haben, nicht mehr wie ein „Jude” behandelt werden. Weder wie ein dreckiger Jude, wie in den Kriegsjahren. Noch wie ein guter Jude. Wie jetzt.
       Jana gehört zu denen, die „danach” geboren sind. Bereits im Kindergarten lernt sie, dass sie nicht so ist wie die Anderen. Weil sie Jüdin ist. Keine dreckige Jüdin, sondern eine gute Jüdin. Eine, die man mögen muss, sonst riskiert man, als Nazi zu gelten.
       In der Schule gehört sie auch nicht „dazu”. Bald ist sie es leid, nur geliebt zu werden, weil sie jüdisch ist. Sie will gemocht werden für das, was sie ist: Jana mit all ihren Fehlern. Mit den Fehlern, die keiner sehen möchte, denn eine Jüdin kann ja keine Fehler haben. Wer Fehler bei einer Jüdin sucht, ist automatisch ... ein Nazi.
       Aber ihr bleibt die jüdische Gemeinde und ihr Ferienlager in Woneburg, wo sie Jüdin ist unter Juden. Wo sie nicht anders ist. Wo sie „dazugehört”.
       Zum „Dazugehören” braucht es allerdings mehr als nur die gemeinsame Religion. Jana hat nicht das richtige Profil, um Pommines Freundin zu sein. Pommine, die Chefin, die Anführerin, das Mädchen mit dem einflussreichsten Vater. Die zwar nicht die Hübscheste ist, aber dafür die Reichste, die Hochmütigste, das Kind, das sich alles herausnehmen darf. Die Mächtigste. Jana zollt ihr nicht den nötigen
Respekt. Schlimmer noch - sie wagt es, ihre eigenen Meinungen zu haben. In Pommines Augen ist Jana die Feindin, die das Wichtigste in ihrem Leben zerstören will: ihre Macht. Aber sie weiß sich zu wehren. Schließlich hat sie Beziehungen ...
       Auf gewisse Weise leistet sie Jana einen wertvollen Dienst. Denn das Mädchen, das schon bald zu ihrer Feindin wird, lässt sie erkennen, dass auch diese Welt nicht die Ihre ist.
       Sie erkennt, dass sie keine Welt besitzt.
       Während andere Mädchen in ihrem Alter davon träumen, hübsch zu sein, träumt Jana davon, keine Jüdin zu sein. Oder besser gesagt, zu einem Freundeskreis zu gehören, dazuzugehören, und dies trotz ihrer Religion. Auf diese Weise lebt Jana gleichzeitig in mehreren Welten. In der ihrer Schulkameradinnen, in der sie zwar willkommen ist, aber fremd. In der ihrer Eltern, die von einem ewig kranken Vater bewohnt wird, der die Folgen seiner Gefangenschaft im KZ nie überwunden hat, und von einer Mutter, die von einer Angst besessen ist, die sie nach dem Krieg nicht loswerden konnte. In der Welt ihrer Vorfahren. In der Welt der jüdischen Gemeinde, in der sie Freundinnen hätte, wenn es keine Pommine gäbe.
      In der Welt der Religion, auf die ihr Vater immer noch so stolz ist.
       Und in der Welt, die sie sich selbst erschaffen hat, in der sie die Freiheit mit den Anderen teilt. Die, in der sie „dazugehört” ...
       Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Universum der Juden, von dem sie weiß, dass sie eigentlich dorthin gehört, aber das sie immer noch nicht versteht, und dem verzweifelten Wunsch, von den „Anderen” akzeptiert zu werden. Dem Wunsch, um ihrer selbst, um Janas willen, gemocht zu werden.
       Doch damit nicht genug: auch die Erinnerungen ihres Vaters lasten auf ihren Schultern.
       Denn die schlimmsten Qualen, die Josef erleidet, sind gefangen in seinem Kopf: die Erinnerungen. Die Erinnerung an die Menschen, die er liebte. Die Erinnerung an die Gräuel, die er sah. Und immer wieder die gleiche Frage: Warum hat er überlebt, während die anderen ermordet wurden?
       Bis er eines Tages nicht mehr der Einzige ist, der diese Frage stellt. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Krieg haben die Deutschen das Gefühl, den Juden genug bezahlt zu haben. Sie suchen nach dem schwächsten Glied, dem schwarzen Schaf, das ihnen ein Alibi gibt, den Geldhahn zuzudrehen. Sie eröffnen die Jagd auf
die Menschen, die das größte Verbrechen begangen haben: die Überlebenden.
       Jana erlebt den Prozess ihres Vaters. Meistens redet man dabei über Geld. Doch Geld ist nur ein Synonym für Schuld. Oder besteht Schuld nur aus Geld?
       Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Jana nicht nur mit einer Umwelt konfrontiert, zu der sie gern gehören würde, sondern auch mit der Frage nach Gut und Böse. Ist Josef schuldig, weil er überlebt hat? Wie reagiert ein Mann, wenn er Hunger hat? Wer ist unschuldig und, vor allem, wer wirft den ersten Stein?
       Die Vergangenheit holt Jana ein, so wie alle Juden, die im Nachkriegsdeutschland geboren wurden.
       Doch Janas Welt beschränkt sich nicht auf die Abgründe zwischen Juden und Nichtjuden, die vorgeben, „normal” zu sein und ihren Vater anklagen. Sie besteht auch aus einem anderen Gericht - aus einem, das sie beschuldigt, ihre Feindin, Pommine, getötet zu haben. Hier geht es jetzt nicht mehr um ihren Vater, sondern um sie selbst. Jetzt ist sie die Schuldige. Vielleicht. Oder auch nicht. Oder erst recht.
 
 
 
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