Doris Kneller, Bücher und Foto-Kunst
Französische Bücher von Doris Kneller

Doris Kneller, Autorin und Fotografin

Chapitre 2

 
      „Ich rede von denen, die den Krieg überlebt haben. Von den Unschuldigen.”
       „Meinen Sie wirklich, dass es Deutsche gab, die unschuldig waren? Machen Sie sich da nicht was vor?” Die Frau runzelte die Stirn.
       Der Richter schüttelte den Kopf. „Nein”, stieß er hervor, „nein. Zitieren Sie mir jetzt nicht diese absurde Theorie, nach der alle verantwortlich gewesen wären. Die meisten konnten nichts dafür.” „Das kommt darauf an, wie man es sieht. Alle wussten, was geschah. Alle hätten einschreiten können. Nicht einschreiten ist auch ein Verbrechen.”
       „Einschreiten, ja, sicher, aber zu welchem Preis?” Der Richter senkte die Augen. „Zu welchem Preis?”, wiederholte er. „Wer den Opfern half, spielte selbst mit dem Tod. Solidarität, junge Frau, ist nichts als ein schöner Traum. Sie existiert nur zu Zeiten, in denen alles in Ordnung ist und keiner sie braucht.”

Chapitre 2

 
      „Sie sagen, die Verantwortliche in Ihrem Kindergarten hätte Sie nie bestraft”, fuhr er fort. „Doch das lag ganz bestimmt nicht daran, dass sie Angst hatte, ihre Umgebung könnte sie als Nazi abstempeln. Sie fürchtete vielmehr ihre eigene Unfähigkeit, den neuen Werten gerecht zu werden. Den Werten, die in ihrem Bewusstsein noch nicht völlig verankert waren.”
       „Weder in ihrem Bewusstsein noch in ihrem Unterbewusstsein”, murmelte Jana. „Diese Leute haben nie kapiert, dass wir nichts anderes sein wollen als ‚normale Leute’. Behandelt werden wie normale menschliche Wesen und nicht wie Judenmonster.”
       „Und deshalb haben Sie Pommine getötet?”

Chapitre 2

 
      „Und was ist so anders an der jüdischen Küche?” Die Neugierde war stärker als ihre Abneigung, mit der „neuen” Anna zu reden, die so gar nicht der Frau ähnelte, die ihr früher so gut gefiel. „Die Liebe”, antwortete ihre Kusine, „die Liebe, die man dem Essen beimischt. Wie eine Zutat. Eine eydishe Mame, eine jüdische Mama, nimmt sich Zeit zum Kochen. Sie hat es niemals eilig und lässt die Mahlzeit sanft köcheln.”
       Jana sah sie ungläubig an. Dann brach sie in Lachen aus. „In diesem Fall ist meine Mutter bestimmt keine jüdische Mama. Sie hat nie Zeit. Wenn möglich, kauft sie alles schon fertig vorbereitet, geschälte Salzkartoffeln, Kartoffelbrei in Tüten, Gemüse in Dosen ...”
 
 
 
 

Chapitre 7

 
      „Wie fühlt es sich an, Jude zu sein?”
       Die Frage kam vollkommen unerwartet. Jana hatte den Eindruck, dass sie Frau Moms noch mehr erstaunte als sie. Der Gesichtsausdruck der Lehrerin schwankte zwischen Neugierde und dem Schrecken darüber, ausgesprochen zu haben, was ihr, wie ihre Schülerin annahm, schon lange auf dem Herzen lag. Vermutlich seit dem Tag, an dem der Krieg zu Ende war, und man sie gezwungen hatte, die Juden zu lieben.

Chapitre 8

 
      Wieder dachte er einige Minuten lang nach. „Nein”, wiederholte er schließlich, „ich glaube nicht, dass sie gläubig war. Aber ... wie soll ich es ausdrücken? ... ich bin überzeugt, dass sie an die Religion glaubte. An das Judentum. An die Traditionen, wenn Sie wollen, oder, besser gesagt, an die Gesten, die die Traditionen ausmachen. Die Traditionen, die uns mit unseren Vorfahren verbinden und beweisen, dass sie nicht umsonst gelitten haben.”
       Die Richter, der Staatsanwalt, die Anwältin, sogar die Zuschauer, alle schwiegen. In dem Saal herrschte eine Stille, die so dicht war, dass man sie fast berühren konnte. Als ob niemand es wagte, auch nur zu atmen. Nur die Gedanken schwebten in der Luft, lauter als Worte.
       „... die beweisen”, fuhr der Kantor fort, „dass unsere Vorfahren nicht tot sind. Dass sie in unseren Köpfen leben. In unserem Geist. In unseren alltäglichen Gesten.”
       Plötzlich hob er den Kopf. Seine Stimme hatte ihre Kraft zurückgewonnen. „Und dass Gott nicht tot ist. Abrahams Gott. Der Gott, der Moses die Gesetzestafeln anvertraute. Der mein Volk befreite. Zuerst von der Sklaverei in Ägypten. Später vom Tod in Deutschland.”

Chapitre 9

 
      „Und dein Vater hat das akzeptiert?”
       „Nicht wirklich.” Jana senkte die Augen, um Maya nicht ansehen zu müssen. Als Josef ihr diesen Teil der Geschichte erzählte, hatte er auch die Augen gesenkt. „Das heißt ... er wollte ablehnen. Aber er wusste, dass das nicht möglich war. Deshalb sagte er ihnen, er würde seinen Job gern aufgeben. Er hat sogar vorgeschlagen, dass sie Levin nähmen, der weitaus fähiger war, diese Aufgabe zu erfüllen.”
       „Und?”
       „Sie sagten nein. Sie wollten, dass er Kapo bleibt. Kapo bleiben oder ab in den Kerker. Er wusste genau, dass der Kerker den Tod bedeutete.”
 

Chapitre 10

 
      „Für uns, die Katholiken in Deutschland, ist die Religion einfach da. Wir brauchen nur die Hand danach auszustrecken. Sie liegt vor unserer Nase. Simpel und einfach. Sie zwingt uns weder dazu, nachzudenken, noch uns anzustrengen. Schlimmstenfalls ist es lästig, Sonntag früh aufzustehen, um zur Messe zu gehen, aber das ist schon die größte Anstrengung, die sie von uns verlangt.”
       „Weil fast alle hier Christen sind”, bemerkte Jana. „Ihr seid keine Ausnahme, ihr braucht euch nicht zu organisieren, um beten zu gehen. Eure Eltern brauchen sich keinen Urlaub zu nehmen, um einen Feiertag einzuhalten, und ihr braucht keine Entschuldigung für die Schule. Ihr seid ... und ihr macht alles ... wie die anderen. Niemand käme auf die Idee, euch ‚anders’ zu nennen, nur weil ihr zu eurem Gott betet.”
       „Ja, wir sind ‚normal’. Normal unter normalen Leuten. Wir überlegen nicht, wir denken nicht nach, der Enthusiasmus hat nicht die geringste Chance, sich auf einer so glatten und weichen ‚Oberfläche’ festzuklammern.”

Chapitre 11

 
      Schuldgefühl. War das nicht das Wort, das sie seit ihrer Kindheit quälte? Das Wort, das immer wiederkam, ob sie es wollte oder nicht. Noch gestern, mit Frank, hatten sie darüber geredet. Dieses Wort, das ihr Leben bestimmte. Und ihr Leben schwer machte.
       Frank hatte behauptet, sie sei nicht schuldig. Und ihr Vater auch nicht. Oder ihre Mutter. „Ich will damit sagen, dass es vielleicht überhaupt keine Schuldigen gab”, bemerkte er, und seine Stimme klang, als glaubte er an das, was er hervorbrachte. Aber später, viel später, als er so viel Wein getrunken hatte, dass die Wahrheit stärker wurde als die Vernunft, fügte er etwas anderes hinzu.
       „Die Deutschen”, begann er und stellte sein Glas auf den Tisch. „Die Deutschen sind alle schuldig. Die einen, weil sie die Macht wollten. Die anderen, weil sie Angst hatten. Die Angst ist das Verbrechen der Menschheit. Nicht das Geld regiert die Welt. Auch nicht die Macht. Sondern die Angst. Ohne Angst kannst du nichts kaufen mit deinem Geld. Es ist nichts wert. Und die Macht auch nicht. Ohne die Angst existiert sie nicht.” Er nahm sein Glas wieder in die Hand. „Ich trinke auf die Gesundheit der Angst.”