Doris Kneller, Bücher und Foto-Kunst
Französische Bücher von Doris Kneller

Doris Kneller, Autorin und Fotografin

 
Roman: Née après
Roman von Doris Kneller: Geboren danach

Kapitel 5

 
      Nur von einer Periode seines Lebens hat er niemals geredet: dem Konzentrationslager. Manchmal glaubte Jana, er hätte sie vergessen. Doch eines Tages ging ihr auf, dass das Gegenteil der Fall war. Wenn er über diese Zeit nicht sprach, dann mit dem Ziel, sie zu vergessen. Aber vermutlich ist ihm das nie gelungen.
       Alles, was er ihr darüber erzählte, war die Geschichte seiner Befreiung. Das „Ende”, wie man damals sagte, das Ende des Krieges, des Schreckens, der Angst, der Schande, der Judenverfolgung. Das Ende einer Ära. Einer Ära, die nicht natürlich ausklang, sondern deren Fortbestand von heute auf morgen verboten wurde. Was blieb war eine simple Erklärung der Siegermächte. Diese Erklärung wurde auf unzähligen Blättern niedergeschrieben. Aber sie hat das Bewusstsein der Menschen nie erreicht. Nicht mal Jahrzehnte später. Nicht mal das Bewusstsein derer, die danach geboren wurden.

Kapitel 6

 
      „Auch du fühltest dich immer ausgeschlossen”, bemerkte sie mit leiser Stimme, während sie die Gläser hoben und anstießen.
       Jana nickte.
       „Und heute? Hast du immer noch dieses Gefühl?”
       Verträumt spielte Jana mit ihrem Glas. Sie tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Maya zündete sich eine neue Zigarette an. Dann schob sie die Packung ihrer Freundin zu. Die bediente sich, schwieg aber weiterhin.
       „Ja”, sagte sie schließlich, „Ja. In gewissem Sinne. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, sich ausgeschlossen zu fühlen, ändert sich das nicht mehr.” „Aber du hast Freunde, einen liebenden Mann, einen Beruf ... Du hast dir ein Leben aufgebaut. Ein Zuhause.”
       Jana schüttelte sanft den Kopf. „Nein, ich glaube nicht. Ich meine damit, ja, sicher habe ich mir ein Leben aufgebaut. Aber kein Zuhause. Ich werde niemals eins besitzen. Ich bin nur ein flüchtiger Besucher, und das werde ich immer sein. Wie im Kindergarten, wo ich nicht dazugehörte. Oder in der Schule. ‚Zu Hause’, das ist automatisch ein Ort, wo man dazugehört. Aber ich gehöre nirgends dazu. Ich habe mich daran gewöhnt. Eine Gewohnheit, die man nicht verliert.”

Kapitel 4

 
       Aber warum?”, wiederholte das Mädchen. „Warum können wir uns denn nicht nach vorne setzen, wo man die Männer beten sieht?”
       In der Reihe, in der die beiden saßen, konnte man tatsächlich nichts von der eigentlichen Synagoge sehen. Ein Teil der Sicht wurde von dem Pfeiler verstellt, der Rest verschwand hinter den Köpfen der Frauen, die im Gang standen und plauderten.
       „Die vorderen Plätze sind für die Reichen. Wir haben kein Geld für einen teuren Platz.”
       „Man muss bezahlen, um einen Platz zu haben?”, staunte Jana.
       „Ja”, erwiderte Brunhilde schroff. „Nichts ist umsonst im Leben, nicht einmal das Recht, in der Synagoge zu beten.”
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Kapitel 6

 
      „Jeder ist fähig zu töten, wenn er einen gewissen Grenzwert erreicht. Aber jeder hat seinen eigenen Grenzwert. Bei manchen ist er niedrig, bei anderen extrem hoch. Wo liegt Ihr Grenzwert, Herr Staatsanwalt?”
       Diesmal mischte sich der Richter ein. Mit ernster Miene beugte er sich vor. Ein wenig verkniffen, damit niemand bemerkte, wie sehr er sich amüsierte, mahnte er: „Liebes Fräulein, Ihre Rolle ist nicht, den Staatsanwalt zu befragen, sondern auf seine Fragen zu antworten.”
       Der Saal brüllte vor Lachen.

Kapitel 7

 
      „Natürlich haben die Juden gelitten. Aber das heißt doch, dass sie wissen, wie sich das anfühlt. Und heute, anstatt andere leiden zu lassen, sollten sie sich erinnern ... sich an den Schmerz erinnern, den man empfindet, wenn man von einem Ort vertrieben wird, an dem man sich zu Hause fühlt.”
       Jana hatte ihren Vater noch nie so sprechen hören. Seine Worte überschlugen sich regelrecht, als hätten sie es eilig, den Mund zu verlassen. Er, der normalerweise immer langsam redete und über jeden Satz nachdachte, bevor er ihn aussprach.
       „In den vierziger Jahren, als die Juden das heutige Israel betraten, wurden sie von den Bewohnern willkommen geheißen. Sie wussten nicht, wie sie in der Wüste überleben sollten, aber ihre Gastgeber haben ihnen geholfen. Sie haben bewiesen, dass Palästinenser und Juden in Frieden zusammenleben können, auf dem gleichen Stück Erde.”
       Jana nickte. „Ja, davon habe ich gelesen. Dass das Land groß genug ist für alle. Aber ...”

Kapitel 7

 
      „Meine kleine Jana, du musst mir etwas versprechen.”
       Erstaunt blieb das Mädchen stehen. Wenn der Vater sich nicht beeilte, würde die Straßenbahn ohne sie abfahren. Doch er stand an der Haltestelle und rührte sich nicht. Die offenen Türen schien er nicht zu bemerken. „Du musst mir etwas versprechen”, wiederholte er, als hätte er Angst, sie könnte ihn nicht gehört haben.
       Die Türen begannen sich zu schließen, die Bahn würde gleich abfahren.
       „Ich möchte, dass du dich immer für den Frieden einsetzt. Egal, um was es geht. Immer. Selbst wenn du dabei etwas verlierst, das dir wichtig ist. Ich flehe dich an, meine Tochter, vergiss nie, dass der Frieden wertvoller ist als alles andere auf der Welt.”
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Kapitel 11

 
      Sie spürte, wie ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht huschte. „Stellt euch doch mal vor, Juden, Christen, Moslems, Hindus, alle zusammen feiern das Fest der Lichter. Jeder kann ihm den Sinn geben, der ihm gefällt, die Geburt eines Gottes, ein Wunder, die Gaben des Winters, Lust auf ein Festmahl, Lust zu singen ... Hauptsache ist, dass alle vereint sind.”

Kapitel 12

 
      „Ihr seid so jung. So jung und dumm. Das gilt nicht für dich, Jana. Du kommst aus einer Familie, in der das Leiden in den Genen vorprogrammiert ist. Du musst wissen, dass ich niemals zu denen gehörte, die die Juden haben leiden lassen. Ja, du kannst versuchen, es abzustreiten, aber das bringt dich nicht weiter. Wenn du weiterkommen willst, gestehe, wer du bist. Gestehe es dir selbst ein: Du bist anders. Alle Juden sind anders.”
       Ihre Stimme war schrill geworden. Sie seufzte, dann beruhigte sie sich ein wenig.
       „Du kannst nichts dafür. Du bist so geboren. Aber aus dir kann trotzdem noch was werden. Jemand, der Erfolg hat. Du hast Talent. Die Juden sind intelligent. Das ist es, was unser Führer nicht verstanden hat.”

Epilog

 
      Hass. Jana schüttelte sich. Waren die Deutschen wirklich alle Monster? Die Texte in den Schaukästen waren eigentlich klar, aber sie warfen viele Fragen auf. Um diese Fragen zu beantworten, standen überall Angestellte der Gedenkstätte herum. Sie sprachen alle englisch und hebräisch und hatten nur eine einzige Aufgabe, nämlich die Besucher zu informieren.
       Jana hatte Lust, zu fragen. Alles, was sie schon lange wissen wollte, und all die neuen Fragen, die beim Betrachten der Schaukästen aufgekommen waren. Aber plötzlich traute sie sich nicht, den Mund zu öffnen. Sie wusste, dass ihr Englisch gut genug war, um jede Art von Unterhaltung zu führen. Damit hatte sie kein Problem. Aber sie fürchtete ihren Akzent. Den Akzent, den ein geübtes Ohr als deutsch erkennen würde. Wie der von einem dieser Monster.
       Zum ersten Mal und wahrscheinlich auch zum letzten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich deutsch. Sie fühlte sich schlecht, aber deutsch. Eine Art von Solidarität mit den Leuten, die sie während ihrer ganzen Kindheit umgeben hatten, überkam sie.